Erinnerungen an den Mond


Ich begebe mich in den Wahnsinn der letzten 25 Jahre. Keine sonderlich diplomatische Welt erwartet mich dort, sondern der Tod, Angst und Schrecken. Nicht viel älter ist mein Bewusstsein, das sich an die bittere Erkenntnis seiner ersten Erinnerung festhält. Es war ein Tag, es war noch früh. Ich stand gerade auf und ahnte es bereits. Es war soweit. Können es auch die mich umgeben fassen, wie ich ebendies gerade zum ersten Mal selbst vollführe? So ging ich zum Tor und öffnete dieses. Mein Reich in meinem Rücken erblickte ich die Aussenwelt, die ich nun bewusst wahrnahm. Mir blieb jedoch keine Zeit, mir diese zu nehmen, denn sogleich erhob sich eine wohlbekannte Stimme, die mich direkt ansprach. Die Morgenroutine musste sofort beginnen, es blieb mir nichts anderes übrig, da sich diese Stimme ansonsten verändert und nicht mehr nur gestresst und leicht unangenehm ist, sondern von Wut zerfressen und bedrohlich. Also tue ich, wie mir geheissen, scheinbar automatisch bewege ich meinen Körper und der gewünschte Effekt der Reinigung geschieht wie offensichtlich jeden Morgen. Auch sonst erwartet mich nichts Spezielles, nichts, dass sonderlich schrecklich wäre, aber auch nichts, dass mir in seiner reinen Existenz den sogenannten Sinn des Lebens offenbaren würde. Nun ahne ich auch, weswegen ich mein Reich so sehr schätze und vielleicht wird es sogar akzeptiert, sollte ich mich irgendwann dazu entschliessen, das Tor auch den Tag hindurch zu schliessen. Ferne Zukunft, erst muss ich diesen Tag bestehen. Offensichtlich haben sie es nicht bemerkt, dass nun ihre Fehltritte nicht mehr vergessen werden, ihre Überreaktionen und ihre von dem einen auf den anderen Moment entstehende Wut, wenn sich irgendein Detail nicht ihren Vorstellungen fügt. Was fällt diesen Wixern eigentlich ein, mir soviel Ballast zu hinterlassen mit ihrem stetig andauernden Stress, den sie mir nicht einmal adäquat zu erklären vermochten? Immerhin sind sie meine Erzeuger und tragen - trotz steigender Eigenverantwortung - dennoch die Hauptverantwortung nicht nur für mein Überleben, sondern auch für mein Wohlbefinden. Aber um dieses muss ich mich wohl allein kümmern, ihr Geist scheint zu schwach zu sein, um diese kindliche Depression überhaupt fassen zu können - und wenn sie Auswirkungen davon an der Oberfläche brodeln sehen, muss das natürlich meine eigene Schuld sein, immerhin bin ich schon in der Kindergruppe - einer Art nicht kapitalistischer KiTa - und komme schon bald in den Kindergarten. Was fällt mir eigentlich zu dieser Kindergruppe ein? Irgendwie gefällt es mir dort, in einen gewissen Rahmen kann ich auch einfach mal machen, aber die anderen Kinder, die sind komisch. Sie hören mir zwar zu, wenn ich was sage, aber auf Fragen reagieren sie nicht wirklich und selbst kommen sie kaum auf mich zu. Lieber mögen sie diesen ständig lachenden Spassti, mit dem ich anscheinend verwandt bin - ein Es, so scheint es mir - und nicht nur von den Kindern wird es besser behandelt. Als wir mal aus Holz bauen konnten, was wir wollten - mein Werk brach immer wieder zusammen - durfte dieses sein zugegebenermassen geniales Haus, das er aus denselben Materialen bildete wie ich meinen Scheiterhaufen, sogar mit nach Hause nehmen, was den anderen vorenthalten blieb. Auch in der Verwandtschaft ist dieses Es deutlich beliebter als ich, möglicherweise eilt mir ein fragwürdiger Ruf voraus, anders kann ich es mir nicht erklären, denn meist bin ich nett und eher ruhig, was ja nichts Schlechtes sein muss. Sie ignorieren mich regelrecht und mischt sich in meine Stimme und Worte nur ein wenig Widerstand, so rasten sie gleich aus und verbieten mir, gleich zu reagieren wie sie. Manchmal lasse ich es mir aber nicht nehmen - nicht oft - aber wenn, dann richtig. Ich schreie ihre überforderten Stimmen nieder, solange, bis mir die Luft ausgeht oder sie resigniert aufgeben und zumindest ein minimales Verständnis für meinen Unmut entgegenbringen. Geschieht so gut wie nie, normalerweise schreien sie mich nieder und bringen mich mit Blicken zum Schweigen, die mir die volle Verachtung für ihr Erzeugnis vorhält und darauf verhalte ich mich wenigstens wie der Erwachsene im Haus und gleite wieder in die Resignation ab. Hier ist mein wahres Zuhause. Hier entdeckte den Schrecken um mich herum und verstand ihn immer besser, aber ich entdeckte auch den Schrecken ausserhalb meines fetten Einfamilienhauses, mit dem ich abermals nicht konkurrieren konnte. Wenigstens habe ich genug Platz und nicht nur der Mond, der die Düsternis der Nacht erhellt, zeigt mir auf, dass da draussen neben dem Abgrund auch noch viele Möglichkeiten liegen, sich über die Menschheit zu erheben. Auch der Fernseher, der ebenfalls die Düsternis der Nacht erhellt, zeigt mir die für mich passendste Möglichkeit eines Lebens: Ich werde ein Star. Also fickt euch alle. 

- RvH - 25.05.2020 - 14:56 - 0175 -