Stammbaum aus der Hölle


Es geht noch kleiner. Der Baum, aus dem ich spriesse, gefangen in einem kleinen Wald und umgeben von noch grösseren, ist höher angesiedelt als viele andere Bäume, die um ihn herumstehen. Mit einer Hand voll weiteren ergeben sie zusammen einen Stammbaum, an deren Spitze die Donna della Famiglia Schmid sitzt. Sie wacht über das Geschehen unter ihr und spannt auch gerne mal kleinere Intrigen, um deren Treue zu testen. Sie hütet ein Gewächs voller grüner Blätter, die von hier aus eher dezent den Stammbaum umkreisen. Um ganz oben bei der Hochwacht mit den Schäfern und Schweinen mitzuspielen, ist die Anzahl jedoch viel zu klein, um sich angemessen zu schmücken. Beim Versuch würde der Stammbaum niedergerissen werden und könnte sich dann höchstens noch gemütlich im Tal ansiedeln. Denn die meisten Ausrichtungen der jüngsten Äste erlauben eigentlich nicht mehr, wenn da nicht die verbindenden Blattverläufe wären. Über diese Wege flossen bereits manches kapitalistische Gut und auch metaphysische Elemente, doch noch nicht von ganz oben. Viele der Äste jeder Generation warten gespannt den Moment ab, an dem es passiert. Andere befürchten das Auseinanderwachsen des Stammbaumes. Nur dieser eine komische Ast, der kifft und Musik macht (nur vom ersteren wissen alle Bescheid), freut sich insgeheim zumindest auf das Ende des Verwandtschaftsgehabes. Das Ereignis an sich täte ihm leid, auch wenn die schroffe Metzgerader der Donna eine emotionale Verbindung grundsätzlich erschwert. Die Metzgerei, auf der ein Teil des Gewächs gepflanzt wurde, hat anno dazumal in Verbindung mit dem Restaurant als Tür zur Dorföffentlichkeit eine stickige Atmosphäre geschaffen, die durch die ständig getragene Maske entstand. Diese stand auch immer zwischen ihnen und der Arbeiterklasse, die dort ein und ausging. Das führte auch schon zu Ablehnungsreaktionen auf eingegangene Verbindungen einzelner Äste, die sich jedoch beruhigt haben. Denn eigentlich weiss dieser Stammbaum, dass er irgendwo zwischen den Schichten stecken geblieben ist und daher ohne Freunde bliebe, wenn er die Unteren ausschliessen würde. Denn von ganz oben betrachtet, gehört er letztendlich auch nur zur arbeitenden Unterschicht. Dieses Bewusstsein schmerzt ihn, doch opportun wie er ist, setzt er für Image und bessere Chancen bei seinen Ästen auf Arbeitswut, die bei manchen böse enden könnte. Denn auch in der Biografie des Stammbaumes hatte der Krieg einen kleinen Einfluss, immerhin konnten sie zu der Zeit nicht jeden Tag Fleisch essen trotz Metzgerei, die dennoch viel Aufwand erforderte. Ein paar Jahrzehnte später brach der Ast ab, der diese am Laufen hielt und so blieb nur noch der Ast für das Restaurant übrig. Auch dieser brach bereits und das Gebäude wurde dem lokalen Immobilienhai überlassen, der es benutzt wie eine Hure. In der alten Generation gibt es noch zwei Äste, der eine ohne Nachkommen, was unter anderem die Rangliste beeinflusst, so denke ich es mir zumindest. Diese Spielereien interessierten mich nie wirklich, ich bin lediglich das Schwarze Schaf dieser Zweckgemeinschaften, was mir die Geier auf einigen Ästen früh offenbarte. Manche meiner Generation waren früher noch befreit von diesem Gefieder, doch sie wuchsen in diese Rolle hinein. Nicht alle, aber immer mehr. Die endgültige Offenbarung wird noch kommen und dann bleiben vielleicht nur noch die, die mir eigentlich wichtig sind, auch wenn sie ebenfalls etwas verblödet sind. Denn sogar hier im Kern der Familie bin ich das Schwarze Schaf, und trotz ständigem Abstreifens dieser Rolle durch kleine Hinweise auf meine Überlegenheit, sehen sie mich immer noch in diesem Kostüm. Ein düsterer und ruhiger Vogel, der nicht fliegen kann, denn auch der andere Stammbaum ist von Arbeit und Wut geprägt, doch kam dieser von unten. Der prägende Ast liess sich kaufmännisch ausbilden und wäre auch alleine aus seinem Arbeiterviertel herausgekommen. Doch er erlebte einen weiteren Stufenaufstieg und wurde als Verwalter des Geldes von Anfang an in diesem hohen Stammbaum aufgenommen, weil kein richtiger Arbeiter, weil genügend eigene Blätter, die er sich verdient. Und dennoch kamen auch hier zwei Schichten zusammen und zeugten zwei Bastardäste. Der eine verweilt auf der Bank, der andere symbolisiert den Widerstand, indem er sich verweigert. Nicht nur die Arbeit fickte ihn zu dieser längeren Ruhepause, auch die ständigen Sticheleien der Äste, die ihm am nächsten sind. Durch diese Nähe gehen diese Sticheleien tiefer als die der anderen Vollidioten, die es überall gibt. Und sie werden nicht weniger, die der älteren nehmen altersbedingt zu und bei anderen besteht die Gefahr auf Lebenslänglichkeit. Auch dieser wahnsinnige Ast, der ihm einst Halt gab, fing vor längerem ebenfalls mit Sticheleien an, da die grosse Erleuchtung immer noch nicht kam, was frustrierend zu sein scheint. Und der kleine Ast, der aus diesem Wahnsinn herausspriess, nahm bereits Charakterzüge an, die mit künftigen Sticheleien drohen. Und diese würden am meisten schmerzen, denn die Kindheit liess um diesen Ast eine Ruhe entstehen, die angenehm war und nur positive Erfahrungen mit sich brachte. Doch die Jugend hat bereits begonnen, was ich verpasst habe. Wie ich es auch verpasst habe, gegen Arroganz und Esoterik anzukämpfen, die diesen Ast nebst meiner nichtssagenden Art beeinflusst haben. Mittlerweile der einzige Grund, wieder zurück zu den beiden Bäumen zu gehen, aus dem wir stammen. Nur habe ich Angst vor den Kämpfen, die für diesen Ast nun endgültig begonnen haben, der dadurch auch öfters mal in die falsche Richtung schiessen wird. Der restliche Stammbaum soll verrecken gehen, die beiden Bäume hier geben mir den Rest. Das ist mehr als genug an kaputten Zweigen, um die ich mich in Wahrheit kümmern muss, nicht umgekehrt. Ihr konntet mich nicht brechen, meine Kinder, doch denkt daran, fast hättet ihr es getan und wäre ich nicht gewesen, wäre ich nicht mehr. Also behandelt mich endlich mit dem nötigen Respekt, wenn ihr mich nicht erst wieder an eurem Sterbebett sehen wollt. Dieser verbale Schlag soll euch gut tun, sonst kommen die physischen zurück, ihr Opfer, ein paar direkt auf diesen dicken Unterschichtsarsch, sehr viele auf die Schulter des anderen Bastards und ein einzelner Schlag auf die Nase der anderen Aussenseiterin. Das ist Familie, nichts anderes habe ich von euch gelernt.

- RvH - 26.07.2019 - 17:51 - 0024 -